Reisen in Europa by Stefan Zweig

Reisen in Europa by Stefan Zweig

Autor:Stefan Zweig
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3-596-22286-9
Herausgeber: Fischer Taschenbuch Verlag


Die Kathedrale von Chartres

1924

Nie war Paris so stark, so blendend wie in diesem Jahr, nie so strotzend von innerer Energie, so strahlend in einem vielfältigen Licht: ein anderer vehementerer Rhythmus schlittert die Straßen, und wer vordem den linden, lässigen Atem dieser Stadt geliebt, spürt erstaunt und beinahe erschreckt, wie heiß, wie leidenschaftlich und fast fieberhaft er nun schwingt. Etwas von New York, vom Tempo der amerikanischen Riesenstädte hat sich eingedrängt in die Avenuen: weiß und blendend gießt sich das Licht über die menschenflirrenden Straßen, von Dach zu Dach springen die Leuchtplakate, und die Häuser zittern bis hinauf zum First vom Gedröhn der Automobile. Die Farben, die Steine, die Plätze, alles glüht und flackert und brennt von diesen neuen Geschwindigkeiten, bis hinab in die donnernde Höhlung der Untergrundbahnen schwingt jeder Nerv dieser blendenden Stadt, und jede Fiber des eigenen Leibes schwingt unbewußt mit: man fühlt sich gejagt, geschoben, getragen von diesem flirrenden Rausch, der betäubt und beglückt und doch müde macht. Lustvoll ist dieses Tempo, eine Phantasmagorie dem Blick, eine starke Spannung dem Gefühl – aber dann kommt immer wieder ein Augenblick, in dem man sich sagt: zu viel! Man möchte für eine Stunde ruhen und rasten, wie vor Jahren lässig schlendern in den alten Gassen der Rive gauche, auf dem jugendgeliebten Boul’ Mich’. Aber die alten Gassen sind nicht mehr stiller Wanderschaft wohlgewillt – wie aus dem Geschützrohr einer Kanone zuckt aus ihrem schmalen Schlund gleich einem Geschoß Schlag auf Schlag, Schuß auf Schuß ein Automobil hinter dem andern. Und auf dem Boul’ Mich’ haben (wie überall) die Banken die Cafés verdrängt – die Jugend, die Studenten, sie sind hinaufgeschoben in die Vorstädte, nach Montparnasse. Nirgends ist eine halbe Stunde Stille von morgens bis morgens in dieser aufgeschwellten, fiebrigen Stadt, bis weit hinaus nach St. Cloud und Sèvres zucken noch die Nerven ihrer ruhelosen Leidenschaft: nirgends, nirgends mehr »la douce France«, nirgends eine Stelle, wo man still gegen Abend zu das silberne Licht über die Seine sehen kann, nirgends mehr das alte Paris; die weiche wollüstig warme Stadt hat Muskeln bekommen und hämmert den Takt wie ein fanatischer Arbeiter –, ihr Glanz zischt auf wie ein zuckendes Raketenspiel. Man muß weit fort, um hinter ihrem englischen, ihrem amerikanischen Antlitz wieder Frankreich, das Frankreich von einst zu fühlen, um beschaulich zu genießen, was einem hier Paris in tausend flirrende Funken zerschlägt. Und plötzlich, sehnsüchtig nach einer Stunde Entspannung, erinnere ich mich, als einzige der großen Kathedralen jene von Chartres nicht gesehen zu haben; sie ist anderthalb Stunden weit, und ich weiß im voraus schon: zwischen ihr und Paris liegt ein Jahrtausend –, in anderem, ruhevollerem Takt schwingt dort der Rhythmus der Zeit.



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